Fahr’n, fahr‘n, fahr‘n auf der Autobahn… Der Gatte hat gerade eine ausgeprägte Kraftwerkphase ?. Für meine musikalischen Ohren echt grenzwertig, aber Baby G. liebt es ?. Und dabei ist es fast schon ein Sinnbild für unser aktuelles Leben. Wir fahren auf der Autobahn, richtig schnell und zumeist auf der Überholspur. Und wäre dies nicht schon herausfordernd genug, sind aktuell irgendwie die Parkplätze alle gesperrt. Pausen machen ist nicht. ?
5.42 Uhr am Sonntag Morgen. Ich bade im Selbstmitleid ?. Alles mit einer 5 vorn macht mich latent aggressiv, auch Kind Nr. 4 ist eher ein Frühaufsteher. Warum konnte nicht mal eins nach mir kommen? MIMIMIMI… ? Baby G. ist 10 Monate alt. Meine Gedanken wandern ein Jahr zurück. Da fing es langsam an, anstrengend zu werden. Zunehmende Hitze, Wassereinlagerungen, in den letzten Wochen vor der Geburt nahm ich nochmal 10 Kilo zu ?. Zum Teil konnte ich kaum Laufen vor Schmerzen, und ich erinnere mich gut an die Nacht, die ich schlafend in der vollen Badewanne verbrachte ?. Denn nur dort konnte ich es einigermaßen aushalten.
Ich weiß, dass ich nichts weiß!
Meine damaligen Gedanken von, “das schaukeln wir schon, uns kann nichts mehr wirklich aus der Bahn werfen”, konnte ich von Tag 1 an mit unserem 4. Kind, ad acta legen ?. Der kleine Mann zeigte mir täglich, dass ich NICHTS weiß, dass ER auf jeden Fall anders ist und was ICH meine, gut für IHN wäre, noch lange nicht bedeutet, dass ER das auch so sieht ?♀️. Ob es entspanntes Stillen, Tragen im Tragetuch, überhaupt Körperkontakt war, der ganze bedürfnisorientierte “Kram” führte mitnichten dazu, ein zufriedenes, selig vor sich hingrinsendes Baby zu bekommen. Es war und ist alles sehr oft ein K(r)ampf. ?
Nach 5,5 Monaten hörten endlich die oft stundenlagen, täglichen Weinanfälle auf. Ein getrenntes Zungenbändchen und eine osteopathische Behandlung brachten die Wendung. Aufatmen ☺️ endlich Zeit zum Genießen, welch ein wunderschönes Gefühl mein Baby entspannt in den Schlaf stillen zu können. ?
Allein die Entspannung war nur kurz, Baby G. hatte sich ganz schnell daran gewöhnt, NUR noch mit Stillen einschlafen zu können und erwachte von nun an, stündlich. Dazu kamen schon sehr zeitig, viele Zähne und das stundenlage Weinen wich einem dauerhaften Nölen. Dieses Geräusch, was dich nach einiger Zeit wahnsinnig macht. ? Er wollte sitzen, wollte vorwärts kommen, diese spannende Welt entdecken aber es ging einfach nicht. Unsere Hoffnung war, wenn er motorisch etwas fitter ist, entspannt sich alles. HAHAHA, Anfängerfehler! ?
Nun kann er seit ein paar Wochen krabbeln, entspannt ist hier dennoch nix. Es ist unfassbar, was für Gefahrenquellen der kleine Kerl in unserem Haus überall aufdeckt. Die kindgerechte Wohnung sieht ätzend aus, und daher ist nun der Wohnzimmertisch gewichen und sämtliche unteren Regelfächer werden Stück für Stück geleert. A. fragte mich gestern, warum ich eigentlich überhaupt jeden Tag aufräume, er macht doch eh nach ein paar Minuten wieder allerfeinstes Chaos. Ja, warum eigentlich?? ?♀️
Einschlafen ist der kleine Tod
Mit die größte Herausforderung ist die Einschlafbegleitung, die dauert gern mal ne 3/4 Stunde plus/minus. Keins meiner anderen Kinder hatte so große Schwierigkeiten, sich runter zu fahren. Nach dem Stillen gibt es ein immer wiederkehrendes Spiel: hinlegen für 1-2 Atemzüge, wieder aufsetzen, kurz krabbeln, dann leg ich ihn wieder hin, 2 Atemzüge uuuuuund von vorn. Teilweise hat er die Augen dabei schon geschlossen und manchmal (ne sogar oft ?) endet es dann wieder in seinem, weil er so fertig ist. An manchen Abenden fällt es mir dann auch noch so unendlich schwer, dabei ruhig zu bleiben. Ein paar mal musste ich schon aufgeben, weil der Druck in mir so immens wurde, dass ich rausgehen und schreien musste, auch das Baby hab ich schon mal angeschrien. ?Da war am Ende des Tages einfach nix mehr übrig, um achtsam und verständnisvoll zu sein.
Die anderen Kinder waren in der Zeit natürlich völlig frei von irgendwelchen Problemen. HAHAHA. ? Das Knöpfchen kämpft mit ihrer neuen Rolle, stetig hin und her gerissen, zwischen „stolzem Gefühl von großer Schwester“ und „da hat mir jemand den Platz weggenommen“ ?. A. hat ihren 1. Schulabschluss mit Bravour gemeistert ????, aber so völlig easypeasy war das natürlich auch nicht. B. kam im neuen Verein nicht so wirklich an und wir mussten irgendwie zugucken, wie ihm Stück für Stück die Freude an seiner großen Leidenschaft flöten ging ?. Ein erneuter Wechsel kann das hoffentlich wieder kitten. Und dann war ja noch das homeshooling ? oder sagen wir eher das Arbeitsblätterausfüllering ?. Und das Bonuskind kämpft sich auch durchs Studium.
War da eigentlich noch was? Ach ja, wir mussten unser Nestchen schließen ?, der Gatte wird sich komplett umorientieren und ja klar, Corona! Was hab ich das am Anfang belächelt und als Panikmache abgetan ?. Als dann mitten in meinem Kurs die Nachricht kam, dass dann ab morgen ALLE Schulen dicht sind, wurde mir doch ganz anders. ?Nach kurzem Schock folgte purer Aktionismus, ein Plan musste her, um Beschulung, Bespaßung und den Rest drumrum, irgendwie gebacken zu bekommen. ?? Aber wie so oft im Leben, kam es frei nach Brecht: “Mach einen Plan, mach einen 2. und stell dann fest, dass BEIDE nicht funktionieren”. ?
Es hat auch sein Gutes
Nun ist es nicht so, dass dies alles nicht auch Vorteile mit sich bringt. Das Haus hat einige Chaosecken weniger. ?? Ich habe gelernt, online Kurse zu geben und kann Hygienekonzepte aufstellen. ?? Ist doch auch was! Die wöchentlichen ups und downs, ob das alles überhaupt noch Sinn macht, ich nicht auch den LieblingsRaum schließen sollte und einen Job als Sozialpädagoge annehme, verhindern ebenso eine eventuell aufkommende Langeweile. ? Zum Teil hatten wir uns hier in den letzten Wochen so satt, dass es ein Segen war so viele Zimmer so besitzen. Jeder konnte dem Anderen aus dem Weg gehen. So eine gewaltige Anspannung und Unsicherheit belastet, nicht nur jeden Einzelnen, sondern auch die ganze Familie. ABER, wir hatten auch viele schöne Momente zusammen, und diverse Fähigkeiten konnten entwickelt werden. So kann B. jetzt Bäder putzen und Eierkuchen backen und A. liest 5 Buchreihen gleichzeitig. ☺️
So und dann kamen die ersten Lockerungen, durchatmen, neu sortieren, alles auf Anfang? ? Nö, kaum Luft geholt, rauscht uns das nächste Thema ins Haus: Rassismus und die Frage, bin ich eigentlich auch rassistisch? ? Puh, welch ein Gedanke und die Erkenntnis: möglicherweise?! Definitiv weiß ich diesbezüglich zu wenig und es fehlen Berührungspunkte und allein ne schwarze Kachel zu posten kanns nicht gewesen sein. Wir leben hier schön in unserer weißen, privilegierten Bubble und sind uns dessen nicht einmal bewusst. Erschreckend! ?
Und dann noch? Kindesmissbrauch, die Flüchtlinge auf Moria und war da nicht auch so ein Problem mit dem Klima? Wir rasen auf der Überholspur, kaum Zeit, um nach links und rechts zu schauen. Kaum ploppt etwas auf und richtet sich der Fokus darauf … PLOPP, kommt schon das nächste Thema. In meinem Alter wird ja gern von der sogenannten Rushhour des Lebens gesprochen. Aber Hilfe, so rasant, wie das gerade ist, da kann einem ja nur schwindelig werden. ?
Pupsgeräusche
So viele Gedanken noch vor 6 Uhr morgens und dann macht Baby G. Pupsgeräusche ? auf meinem Arm, das hatte ihm der Papa vor einiger Zeit beigebracht und er lacht sich immer scheckig, wenn es ihm gelingt. So wie heute. ? Es reißt mich aus meinen Gedanken und ich realisiere, Himmel, wie bitte soll dieses Kind denn auch ein tiefenentspannter Buddha werden? Seit er auf der Welt ist, rasen wir mit überhöhter Geschwindigkeit durch unser Leben. Dinge, die wir zuvor noch nie erlebten, wollen bewältigt werden. Und er muss immer mit. Davon ab, dass es einfach nicht seinem Charakter entspricht, die Welt nur aus der Ferne anzugucken. ? Er muss da überall hin, sehen und fühlen, riechen und schmecken, mittendrin statt nur dabei. ?
Dem Pupsgeräuschen folgt ein lustiger Singsang, ein Kreiseln im Bett mit glucksendem Lachen, ein kurzes Sekundenkuscheln und der Versuch, über mich drüber zu klettern. ? Neee, langweilig wird es mit diesem kleinen Schatz sicherlich nie und ich hoffe sehr, dass wir demnächst auch mal wieder etwas öfter die Überholspur verlassen und vielleicht sogar ne Ausfahrt nehmen können. Bis dahin lerne ich jeden Tag weiter dazu, übe mich darin meine Überzeugungen von richtig und falsch weiterhin zu hinterfragen, passe auf, dass wir die Geschwindigkeit nicht all zu oft übertreten und beende mein Pläne schmieden, weil wegen Brecht und so ? und bin dankbar. Ich finde, dass ist für 6 Uhr morgens, an einem Sonntag auch völlig ausreichend!
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